Dr. Felix Bluhm (SOFI Göttingen) wurde im Rahmen des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) der Dissertationspreis der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie für seine 2019 erschienene Studie „Kollektives Handeln in der Krise. Betriebliche Alltagskonflikte nach dem Boom“ verliehen.
Bei dieser Studie greift Felix Bluhm methodisch auf einen sekundäranalytischen Ansatz zurück und re-analysiert das empirische Material der arbeitssoziologischen Studie zu Rationalisierungsprozessen auf zwei bundesdeutschen Werften aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.
Auszüge aus der Laudatio der DGS-Sektion Arbeits- und Industriesoziologie zum Dissertationspreis 2020, der somit erstmals für eine Sekundäranalyse verliehen wurde.
Diese Arbeit ist nicht nur von den GutachterInnen glänzend bewertet worden – das sind andere Arbeiten auch –, sie erfüllt zudem alle unsere Bewertungskriterien. Entscheidend für die Auswahl war jedoch ihre Bedeutung für das Fach. […]
Warum […] eine Arbeit prämieren, die sich mit dem traditionellem „Herzstück“ der Industriesoziologie befasst und noch dazu mit einem längst vergangenem.
Die Antwort lautet: weil gerade darin die Stärke dieser Dissertation liegt. Sie entwickelt einen neuen aktuellen Blick auf einen alten Forschungsgegenstand und identifiziert mit den „betrieblichen Bedingungen kollektiven Handelns in der Krise“ eine „Leerstelle“ in der damaligen wie heutigen Forschung, die angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen dringend ausgefüllt werden sollte. Und methodisch handelt es sich um einen sekundäranalytischen Ansatz, um eine Re-Analyse von empirischen Material aus einer arbeitssoziologischen Studie zu Rationalisierungsprozessen auf zwei bundesdeutschen Werften, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durchgeführt wurde. Dabei handelt es sich um eine Pionierstudie im deutschen und internationalen Kontext, denn der Autor wagt sich in ungesichertes Terrain vor, das nicht nur weitgehend unerforscht ist, sondern bei dem Möglichkeit und Grenzen der Erforschung in den letzten Jahren kritisch diskutiert wurden. Mit der vorgelegten gelungenen Sekundäranalyse wird auch ein wichtiger Beitrag zu dieser Diskussion geleistet. Gleichzeitig wird eine Verbindungslinie zu zeitgeschichtlichen Forschungen hergestellt, die gegenwärtig die Entwicklungen seit den 1970er Jahren in Deutschland und Europa unter dem Label „Problemgeschichte der Gegenwart“ analysieren. Wie bei diesem Typus historischer Analysen steht auch bei Bluhm die Verbindung zur Gegenwart und der Bezug auf aktuelle Problemlagen im Zentrum.
Die Krisendiagnose ist eine dieser Verbindungslinien, die seit den 1970er Jahren Arbeits- und Industriesoziologen wie die Zeithistoriker immer wieder beschäftigt. Bluhm fokussiert seine Krisenanalyse auf das Verständnis kollektiver Handlungsmuster von Beschäftigten in krisenbetroffenen Betrieben. Auf der Basis seiner Sekundärauswertung von Forschungsmaterial (Interviews, Expertengespräche, Dokumenten) aus der Untersuchung von zwei Werftbetrieben entwickelt er eine konsistente Deutungsperspektive kollektiver Handlungsweisen von Beschäftigtengruppen bei krisenbedingten Konflikten. Diese Alltagskonflikte spielten bei der untersuchten Originalstudie keine Rolle und werden auch in den späteren Krisenstudien weitgehend vernachlässigt. Bluhm konstatiert „eine merkwürdige Ignoranz sogar gegenüber klar identifizierbaren kollektiven Handlungsweisen“, wodurch das Bild einer hilflosen, weitgehend resignierten Arbeiterschaft in der Krise entstanden sei. In den neueren Krisenstudien nach der „Finanzkrise“ 2008/09 werden zwar verletzte Ansprüche und hohe Unzufriedenheit bei den Beschäftigten festgestellt, aber nicht danach gefragt, wie die Beschäftigten mit ihrer Unzufriedenheit umgehen. Die Wahrnehmung von Krise werde „allein über die Erhebung individueller Einstellungen und ohne Analyse tatsächlichen Agierens in der Gruppe“ untersucht, so die Kritik von Bluhm an den aktuellen Studien. Auch wenn seit der „subjektiven Wende“ der Arbeits- und Industriesoziologie in den 1990er Jahren die subjektive Sicht der Betroffenen deutlich stärker in den Mittelpunkt gerückt ist, spielen Veränderungen von betrieblichen Kräfteverhältnissen und die konkreten Handlungsweisen von Arbeitenden keine wesentliche Rolle. Dadurch, dass Bluhm in seinem Konzept und in seinen empirischen Analysen das Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung und konkreten, sich in der Krise verändernden betrieblichen Konstellationen in den Blick nimmt, gelingt es ihm, die historischen Handlungsweisen von Beschäftigtengruppen zu erklären und auch kollektive
Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dies wendet er auch gegen aktuelle arbeitssoziologische Thesen, die im betrieblichen Raum meist nur den Tatbestand der Ohnmacht konstatieren.
Die arbeitssoziologische Leerstelle, die Bluhm mit seiner Analyse aufdeckt, ist demnach eine doppelte: Sie betrifft die betriebszentrierten Untersuchungen, die zwar ins Detail betrieblicher Verhältnisse vordringen, aber nicht bis zu den subjektiven Handlungsbedingungen von Beschäftigten und Beschäftigtenkollektiven (z.B. die Rolle von Arbeitskämpfen). Und sie betrifft auf der anderen Seite die subjektzentrierten Untersuchungen, die zu oft mit stark individualisierenden Ansätzen arbeiten und damit kollektives Handeln nicht in den Blick bekommen. Um die Leerstelle zu füllen, wäre demnach eine Bewegung auf beiden Seiten notwendig: Nur so gelänge es, betriebliche Alltagskonflikte genauer zu betrachten, kollektive Handlungsweisen zu erkennen und Handlungsoptionen aufzuzeigen. […]
Die darin herausgearbeiteten Faktoren, die für kollektives Handeln im betrieblichen Alltag bedeutsam sind, bilden Leitlinien, an denen sich neue Untersuchungen orientieren können. Sekundäranalysen, die Wege für die Konzeption neuer Forschungsprojekte weisen, sind also auch in dieser Hinsicht gegenwartsbezogen. Sekundäranalyse und aktuelle Erhebungen sind im Optimalfall komplementäre Strategien und können vermutlich ein Erkenntnispotenzial entfalten, das weit über die jeweiligen Einzeluntersuchungen hinausgeht, wenn sie eng miteinander verknüpft werden. Diese Perspektive – die Bluhm abschließend formuliert – sollte ernst genommen werden, wenn es um die Konzipierung neuer gegenwartsbezogener Sekundäranalysen geht.
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