Abstract für einen Beitrag zur Herbst-Tagung 2017 der Sektion „Arbeits- und Industriesoziologie“ der DGS in Göttingen.
Prekarisierung und Prekarität gehören zum festen Bestandteil arbeits- und industriesoziologischer Forschung: Sie restrukturieren den Lebens- und Arbeitszusammenhang, führen zu Anerkennungsdefiziten, Sinnverlust und sozialer Desintegration – von sozioökonomischen Einbußen und sozialer Verwundbarkeit ganz zu schweigen. Wenig bekannt hingegen ist über die politischen Orientierungsmuster und das Gesellschaftsbild derer, die zum sogenannten „Prekariat“ gezählt werden. Der Diskurs über (Nicht-)Wahlverhalten und populistische Anfälligkeit der sogenannten „Abgehängten“ und „Entkoppelten“ wird medial zwar breit geführt, und Ereignisse wie der Brexit, die Wahl Donald Trumps oder der Aufstieg eines rechten Populismus in Europa lassen entsprechende Zusammenhänge vermuten. Empirisch gesicherte Befunde liegen jedoch nur ansatzweise vor. Gibt es ein spezifisch konturiertes Gesellschaftsbild der Prekären, das hier zum Tragen kommt?
Hier setzt das Forschungsprojekt „Das Gesellschaftsbild des Prekariats“ an, das den Zusammenhang von Prekarität und Einstellungsmustern bzgl. Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen untersucht. Als Teilprojekt des BMBF-geförderten Forschungsverbunds „eLabour – Neue Konturen von Produktion und Arbeit. Interdisziplinäres Zentrum für IT-basierte qualitative arbeitssoziologische Forschung“ (Laufzeit: Oktober 2015 bis September 2018) und mit einer qualitativen, sekundäranalytischen Auswertung verschiedener Materialbestände aus den Jahren 2004–2013 suchen wir nach Koordinaten und Bestandteilen eines „prekären“ Gesellschaftsbildes in früheren Datensätzen. Die Ergebnisse der Sekundäranalyse werden durch eine Nacherhebung von ca. 30 Interviews mit Beschäftigten unterschiedlicher Branchen und Zonen sozialer Sicherung ergänzt. So werden im Rahmen der Sekundäranalyse Elemente eines Gesellschaftsbildes aus anderen historischen Kontexten ermittelt, die Nacherhebung prüft u.a. vor dem Hintergrund tagesaktueller Entwicklungen, ob diese sich historisch festfestigt oder verändert haben.
Die bisherigen Ergebnisse zeigen einen resignativen Rückzug aus der (partei-)politischen Sphäre und Ablehnung „der“ Politik samt ihrer Repräsentanten, im Extremfall eine Entkoppelung von Lebenswelt und gesellschaftlichem bzw. politischem Leben insgesamt. Gleichwohl ist das Gesellschaftsbild vieler Befragter dichotomisch – jedoch werden dabei weniger Kapital und Arbeit, sondern in erster Linie Eliten bzw. Politik und Volk gegenübergestellt. Dies übersetzt sich jedoch nicht in eine gemeinsame, Kollektividentität: Viele verorten sich demonstrativ in der gesellschaftlichen Mitte und greifen z.T. auf chauvinistische Abwertungsmechanismen zurück. Zusammen mit einer Tendenz zum Utopieverlust – viele können sich einen anderen Modus von Gesellschaftlichkeit nicht mehr vorstellen – tragen diese und weitere Elemente eines „prekären“ Gesellschaftsbildes Züge eines populistischen Grundmusters. Dieses kann von rechts politisiert werden, ist an sich aber offen und richtungslos – eine Politisierung nach links ist insofern zumindest denkbar.
Auf Grundlage von ca. 40-50 qualitativen Interviews mit sicher sowie prekär Beschäftigten sowie Erwerbslosen soll der Beitrag sowohl Ergebnisse des Projekts präsentieren als auch die im Rahmen des eLabour-Verbunds entwickelte qualitative Sekundäranalyse als fruchtbares Instrument für die Arbeitssoziologie vorstellen: Sie eignet sich nicht bloß zur historisierenden Rückschau, sondern kann – gerade mit Blick auf Gesellschaftsbilder – Aufschluss über die Genese und Entwicklung von Einstellungsmustern und Bewusstseinsstrukturen geben – erst unter deren Einbeziehung werden gegenwärtige empirische Befunde und Entwicklungen erst voll verständlich.