Sfs Dortmund: Widersprüchliche Integration von Frauen in Dienstleistungsarbeit
Ellen Hilf, Dr. Katja Pohlheim, in Kooperation mit Prof. Heike Jacobsen /TU Cottbus
Das sekundäranalytische Pilotprojekt ging den Verschränkungen zwischen dem Wandel der Geschlechterverhältnisse und den sektorspezifischen Formen der Reorganisation im Einzelhandel für die Zeit von 1980 bis heute in einer Längsschnittperspektive nach. Die Pilotstudie griff damit die für die frühen Projekte der Sozialforschungsstelle prägende Kombination von Fragestellungen aus der Geschlechterforschung und der Arbeits- und Industriesoziologie auf. Die Fragestellung wurde im Projektlaufverlauf auf die Bedeutung der Berufsfachlichkeit für die Arbeit im Verkauf konzentriert.
Arbeit im Einzelhandel gilt als wenig anspruchsvoll und, was Einkommens- und Aufstiegschancen betrifft, als überwiegend unattraktiv. Diesen negativen Einschätzungen steht jedoch entgegen, dass seit Jahrzehnten der Anteil berufsfachlich qualifizierter Arbeitskräfte im deutschen Einzelhandel auf hohem Niveau verharrt und die Berufsbilder VerkäuferIn und Einzelhandelskaufmann-/frau unverändert obere Plätze in der Rangliste der Häufigkeiten der gewählten Ausbildungsberufe einnehmen. Obwohl Berufsfachlichkeit nicht als notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt dieser Branche erscheint, werden nach wie vor Fachkräfte ausgebildet und eingesetzt. Mögliche Erklärungen für diesen Widerspruch können in der geschlechtsspezifischen Typisierung der Verkaufsarbeit liegen: Sie gilt in Deutschland als frauentypisch, was eine besondere inhaltliche Affinität der Frauen zu den Anforderungen und zu den Formen der Arbeitsorganisation und der Beschäftigungsstrukturen impliziert, jedoch, wie auch in anderen typischen Fraueneinsatzbereichen, mit schlechteren Arbeitsbedingungen verbunden ist.
Die vorgenommene Rekonstruktion der Entwicklung der Erwerbstätigkeit bzw. Beschäftigungsstrukturen im stationären Einzelhandel in Deutschland (bzw. zunächst Westdeutschland bis 1991) von ca. 1980 bis in die Gegenwart auf Grundlage der Auswertung einschlägiger Statistiken zeigt erstaunliche Stabilität hinsichtlich der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten im Einzelhandel bei gleichzeitig stetiger Fragmentierung der Beschäftigung von überwiegend Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen hin zu überwiegend Teilzeit und einem hohem Anteil geringfügiger Beschäftigung.
Vor dem Hintergrund der strukturellen Veränderungen in der Branche stellt sich die Frage, ob sich im Zeitverlauf berufliche Orientierungen der Beschäftigten und Personalstrategien der Unternehmen verändert haben. Die Pilotstudie versucht eine Längsschnittbetrachtung auf Grundlage einer Sekundäranalyse früherer Studien, beginnend mit den frühen 1980er Jahren. Verfahren wurde nach der Methode des „synthetischen Längsschnitts“, d.h. mehrere Primärstudien werden diachron miteinander verbunden, um so Antworten auf eine Forschungsfrage über den Zeitverlauf zu finden.
Für die Sekundäranalyse wurden die einschlägigen Primärstudien, die an der Sozialforschungsstelle seit 1980 durchgeführt wurden, gesichtet und die Veröffentlichungen aus diesen Projekten bzw. Projektberichte zur Kenntnis genommen. Es wurde entschieden, die sogenannte „Verkäuferinnen-Studie“ (Veröffentlichung: Goldmann/Müller 1986) zum inhaltlichen und zeithistorischen Ausgangspunkt für die Sekundäranalyse zu machen. Diese erste der sfs-Studien der geschlechtersensiblen Arbeitsforschung bzw. arbeitsbezogenen Geschlechterforschung stellt die Beziehung der Geschlechterverhältnisse in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit in der beruflichen wie in der privaten Sphäre und die Art und Weise, wie die jungen Frauen versuchen, die jeweiligen Bedingungen mit ihren Ansprüchen auf berufliche und Erwerbsperspektiven zu verbinden in den Mittelpunkt. Die Studie fokussiert außerdem als eine der ersten in der deutschen Arbeits- und Industriesoziologie überhaupt auf Dienstleistungsarbeit im Handel, einer Branche mit einer hohen Bedeutung für den Arbeitsmarkt und insbesondere für die Beschäftigung von Frauen. Das qualitative Datenmaterial der Studie ist in vorbildlicher Weise dokumentiert: alle 140 Interviews mit ExpertInnen und mit Beschäftigten liegen vollständig transkribiert vor. Das umfangreiche empirische Material dieser Primärstudie wurde für die Einspeisung in die eLabour-Umgebung aufgrund ihrer historischen Bedeutung mit großem Aufwand aufbereitet, um es für die Nachnutzung durch spätere Forschungsprojekte verfügbar zu machen.
Weitere Studien der sfs aus den nachfolgenden Jahrzehnten wurden in die Analyse integriert: aus den 1990er Jahren die Studie „Menschengerechte Arbeitsgestaltung im Einzelhandel unter dem Einfluss neuer Technologien“ (Goldmann/Jacobsen 1994), aus der Jahrtausendwende die Studie „Servemploi – Innovations in Information Society Service Sectors – Implications for Women’s Work, Expertise and Opportunities in European Workplaces” (Jacobsen 2002) sowie die neuere Studie „Gute Arbeit mit Kundschaft“ (Flüchter u.a. 2018). Die sekundäranalytische Interpretation bezog sich auf ausgewählte Betriebsfallstudien.
Die Aufbereitung des Primärmaterials für die Sekundäranalyse und für den Ingest in die eLabour-Umgebung war ausgesprochen aufwändig, nicht nur hinsichtlich der – aus Eigenmitteln der sfs realisierten Digitalisierung und Pseudonymisierung des umfangreichen Materials der „Verkäuferinnen-Studie“. Auch die Arbeit an den interdisziplinären Arbeitspaketen erforderte einen erheblich höheren Personalaufwand als angenommen. Da die Forschungsumgebung noch nicht soweit gediehen war, dass eLabour schon Suchstrategien für die Sekundäranalysen ermöglichten, war für die Pilotstudie buchstäblich viel „Handarbeit“ bei der Auswahl des Primärmaterials und für die Inhaltsanalyse notwendig. Dies hatte Folgen für den Umfang der geplanten Follow-up-Erhebungen. Fallstudien im ursprünglich geplanten umfangreichen Umfang waren nicht mehr möglich. Um die aktuelle Situation als vorläufigen Endmesspunkt der Längsschnittbetrachtung einzufangen, wurde eine Sekundäranalyse von Fallstudien-Interviewmaterial, das im Rahmen einer neuen sfs-Studie zur Arbeit in kundenbezogenen Dienstleistungen erhoben wurde (Flüchter u.a. 2018) vorgenommen. Damit konnte die Methode der Sekundäranalyse nicht nur auf historische, sondern auch auf neue Empirie angewandt werden. Es wurde außerdem eine Dokumentenanalyse der Internet-Auftritte großer Lebensmittel- und Textileinzelhandelsunternehmen in Bezug auf ihr Personalmarketing durchgeführt. Methodologisch ersetzte dieser Schritt zum Teil Primärerhebungen im Feld, die bis in die 2000er Jahre notwendig waren, um die Grundzüge der Personalpolitik in der Selbstdarstellung der Unternehmen rekonstruieren zu können. Ebenfalls einer Dokumentenanalyse unterzogen wurden Publikationen aus dem Kontext der Gewerkschaften und Verbände zur Berufsausbildung, zu Arbeit und Beschäftigung im Einzelhandel wie von Medienbeiträgen, die die Arbeitsbedingungen in einzelnen Unternehmen der Branche kritisch beleuchten bzw. regelrecht skandalisieren. Analysiert wurden zudem die Veränderungen in den Berufsausbildungsrahmen und die Publikationen zur Ausbildung in der Branche, die Veränderungen im Berufsbild VerkäuferIn bzw. der Kaufleute im Einzelhandel, wie auch der Kampf um die Durchlässigkeit der zweijährigen Ausbildung VerkäuferIn zur dreijährigen Ausbildung zur/zum Einzelhandelskauffrau/-mann.
Die Bedeutung von Berufsfachlichkeit ist erwartungsgemäß nicht ohne weiteres an den Anteilen berufsfachlich Qualifizierter abzulesen. Hinter der Oberfläche der sozialstatistischen Kategorie steht die Inanspruchnahme tatsächlich ausgeübter Tätigkeiten und dafür notwendiger Qualifikationen und Kompetenzen in Frage. Von überragender Bedeutung, so zeigen die Ergebnisse der Sekundäranalyse, sind darüber hinaus die sozialen Prozesse der Zuschreibungen von Fachlichkeit, der Anerkennung der Notwendigkeit, dass für die erfolgreiche Bearbeitung einer Aufgabe fachliche Kenntnisse und Kompetenzen erforderlich sind. Berufsfachlichkeit ist im Verlauf der vergangenen Dekaden aus dem Zentrum des Verkaufs zu einem Phänomen des oberen Randes, also der Führungsebene geworden. Im Verkauf ist fachliche Qualifikation weiterhin breit vertreten, es können daran jedoch kaum Ansprüche an Arbeitsbedingungen, Entwicklungsmöglichkeiten, existenzsichernde Einkommen geknüpft werden. In allen Dimensionen von Berufsfachlichkeit zeigen sich massive Veränderungen über die Zeit. Dem gewissen Pioniergeist, mit dem in der ersten Phase junge Frauen an die Ausbildung herangingen, um ihre Ansprüche auf Integration in den berufsfachlichen Arbeitsmarkt auch für die Zukunft zu sichern, folgte schon in der ersten Dekade massive Ernüchterung durch weitere Entwertung – diesmal nicht vorrangig durch Geschlechtstypisierung der Qualifikationsinhalte, sondern durch Entschwinden der eindeutig fachlichen kaufmännischen Funktionen aus dem Verkauf in die Zentralen. In der folgenden Dekade war eine berufliche Ausbildung weiterhin selbstverständliche Eintrittskarte geblieben, sie wurde nunmehr jedoch durch Drehen an der Schraube numerischer Flexibilisierung auf Kosten der Stabilität des Einkommens untergraben. Heute scheint die Frage nach der Bedeutung der Berufsform für die Beschäftigten im Verkauf vor allem in preisaggressiven Vertriebsformen fast deplatziert, was nicht bedeutet, dass nicht auch hier langjährige Betriebszugehörigkeiten die Regel sein können.
Es spricht für große Stabilität der Institution der Berufsfachlichkeit, dass auch heute noch so viele fachlich qualifizierte Beschäftigte im Einzelhandel tätig sind. Bestätigt wird damit, dass Berufsfachlichkeit für das Produktionsmodell weiter relevant ist. Für die Unternehmen bietet sie wie vielfach belegt sehr gute Chancen, Arbeit funktional flexibel zu organisieren und dabei große Spielräume für die Uminterpretation von Aufgaben als nicht fachliche und die Verweigerung entsprechender Anerkennung, insbesondere in Form von Einkommens- und Aufstiegschancen, zu nutzen. Im historischen Verlauf zeigt sich, dass diese Chancen nur solange zunehmend genutzt wurden, bis technisch ermöglichte zentrale Kennziffernsteuerung in Verbindung mit der institutionellen Verfestigung numerisch flexibler Beschäftigung stabile Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse an den Rand drängten. Seit der Jahrtausendwende, so legt es diese Empirie nahe, fand eine Re-Polarisierung der Arbeitsorganisation statt, die heute im Extremfall der hier berücksichtigten Fallstudien auf fachliche Qualifikationen, Aufgaben und Zuschreibungen auf der operativen Ebene im Verkaufsraum praktisch vollständig verzichtet. Die weitgehende Freigabe der Ladenöffnungszeiten einerseits und die unmittelbar danach aufgehobene Zugabenverordnung andererseits, haben preisaggressiven Vertriebsformen und kapitalstarken Unternehmen große Wettbewerbsvorteile verschafft. Die vorher vielfach empathisch verstandene, also auf den personalen Kunden gerichtete, Kundenorientierung wich zu Gunsten einer funktionalen Kundenorientierung zurück – mit deutlich beobachtbarer Abwertung kundenbezogener Qualifikationen im Verkauf.
Aus der Perspektive der Einzelnen ist Berufsfachlichkeit in Deutschland weiterhin eine wichtige Institution für die Arbeitsmarktintegration. Dies dürfte mit dazu beitragen, dass auch heute noch die Berufe im Einzelhandel die am stärksten besetzten Ausbildungsberufe sind. Den jungen Frauen stehen jedoch heute sehr viel mehr berufliche Möglichkeiten offen als vor vierzig Jahren. Insofern sind sie weniger als in der Vergangenheit angewiesen auf diese „Frauenbranche“. Aktuelle Beobachtungen zeigen, dass der Handel keine Frauenbranche bleiben muss. Am unteren Ende der Hierarchie ergreifen auch Männer die Chancen, ohne fachliche Ausbildung an Kassen- und Warenverräum-arbeitsplätzen tätig zu werden. Am oberen Ende der Hierarchie gelingt es Frauen, aber mehr noch Männern, auf Basis einer dualen Ausbildung Führungsfunktionen einzunehmen. Chancen bieten sich auch für Frauen und Männer mit Migrationshintergrund.