Frag­men­tier­te Arbeit

PD. Dr. Harald Wolf

Die zwei­te am SOFI durch­ge­führ­te Pilot­stu­die ver­such­te, eine Längs­schnitt­per­spek­ti­ve auf „Frag­men­tier­te Arbeit“ (Mar­ching­ton et al. 2005) in der Auto­mo­bil­in­dus­trie zu ent­wi­ckeln. „Frag­men­tie­rung“ meint dabei die neue und zuneh­men­de Arbeits­tei­lig­keit der mate­ri­el­len wie imma­te­ri­el­len Pro­duk­ti­on und die ent­spre­chen­de Neu­de­fi­ni­ti­on von Tätigkeits‑, Koope­ra­ti­ons- und Kon­troll­struk­tu­ren als Resul­tat von Out­sour­cing, der Unter­neh­mens­ver­net­zung und der Fle­xi­bi­li­sie­rung von Beschäf­ti­gung. Die Rekon­struk­ti­on der Her­aus­bil­dung und Ent­wick­lung frag­men­tier­ter Arbeits- und Koope­ra­ti­ons­struk­tu­ren von 1980 bis in die Gegen­wart erfolgt auf Basis des Pri­mär­ma­te­ri­als aus sechs SOFI-Stu­di­en sowie einer Fol­low-up-Erhe­bung.

Vier Ergeb­nis­se der Pilot­stu­die sind beson­ders her­vor­zu­he­ben. Ers­tens erlau­ben die reich­hal­ti­gen Pri­mär­ma­te­ria­li­en der frü­he­ren Stu­di­en (für die aus­ge­wähl­ten Unter­su­chungs­be­rei­che End­mon­ta­ge und For­schung & Ent­wick­lung) nicht nur die Rekon­struk­ti­on eines for­dis­ti­schen (ver­ti­kal hoch­in­te­grier­ten) „Null­punkts“ des Pro­duk­ti­ons­sys­tems, der im star­ken Kon­trast zur spä­te­ren Frag­men­tie­rung steht, son­dern auch von ver­schie­de­nen Ent­wick­lungs­stu­fen hin zum heu­ti­gen „Flucht­punkt“ von Frag­men­tie­rung. Es zeigt sich, dass frag­men­tier­te Arbeit in der Auto­mo­bil­in­dus­trie suk­zes­si­ve an Gewicht gewinnt und eine wider­sprüch­li­che, mit neu­en Belas­tungs­er­fah­run­gen ver­bun­de­ne Inten­si­vie­rung von Koope­ra­ti­ons­an­for­de­run­gen an die Beschäf­tig­ten mit sich bringt, die bis­her noch zu wenig in den arbeits­so­zio­lo­gi­schen Blick gerät. Bemer­kens­wert ist u.a., wie stark die Frag­men­tie­rungs­dy­na­mik inzwi­schen auch ver­meint­li­che „Kern­kom­pe­ten­zen“ wie die For­schungs- und Ent­wick­lungs­be­rei­che prägt.

Es lässt sich zwei­tens eine zuneh­men­de „Poli­ti­sie­rung“ des Arbeits­ge­sche­hens beob­ach­ten. Im Zuge der wider­sprüch­li­chen Koope­ra­ti­ons­in­ten­si­vie­rung und gleich­zei­ti­gen Ver­viel­fäl­ti­gung orga­ni­sa­tio­na­ler Dif­fe­ren­zen und Ver­rin­ge­rung von Distan­zen wächst die Bedeu­tung der Wahr­neh­mung von Ungleich­heit bei allen Betei­lig­ten, die stän­dig eine ent­spre­chen­de nor­ma­ti­ve „Ver­gleichs­ar­beit“ leis­ten, die Legi­ti­ma­ti­ons­druck erzeu­gen und inter­es­sen­po­li­ti­sche Akti­vie­rung, aber auch Schlie­ßun­gen und Abgren­zun­gen beför­dern kann (Wolf 2017). Außer­dem erschei­nen die frag­men­tier­ten Orga­ni­sa­ti­ons- und Arbeits­ver­hält­nis­se jeder­zeit als offen­sicht­lich „gemach­te“, die sich inter­es­sen­ge­steu­ert stän­dig ver­än­dern und als (betriebs- oder gewerk­schafts-) poli­tisch beein­fluss­bar erschei­nen.

Drit­tens wirft der Rekon­struk­ti­ons­ver­such der Frag­men­tie­rungs­ent­wick­lung grund­sätz­li­che theo­re­ti­sche Fra­gen der Arbeits­so­zio­lo­gie auf. Es zeigt sich, wie eng der Ana­ly­se­fo­kus der frü­he­ren Stu­di­en der frü­hen for­dis­ti­schen Logik folg­te und dabei ins­be­son­de­re die Koope­ra­ti­ons­di­men­si­on von Arbeit fast völ­lig aus­blen­de­te. Der zuneh­men­den Frag­men­tie­rung und den neu­en über- bzw. zwi­schen-betrieb­li­chen Ver­net­zungs- und Koope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen wird die Arbeits­ana­ly­se damit bis heu­te nicht wirk­lich gerecht.

Zu nen­nen ist schließ­lich vier­tens ein metho­di­sches Ergeb­nis. Es wird deut­lich, dass von vorn­her­ein plu­ra­le Orga­ni­sa­ti­ons­per­spek­ti­ven in Rech­nung gestellt und in die Unter­su­chung ein­be­zo­gen wer­den müs­sen, will man die auch in ande­ren Berei­chen zuneh­mend frag­men­tier­ten Arbeits­struk­tu­ren ange­mes­sen erfor­schen. Ent­spre­chen­de orga­ni­sa­ti­ons­über­grei­fen­de Unter­su­chungs­de­signs müs­sen des­halb inten­si­ver erprobt, aber zugleich auch im zuvor ange­deu­te­ten Sin­ne arbeits- und koope­ra­ti­ons­ana­ly­tisch „geer­det“ wer­den.

Die­ses Pilot­pro­jekt hat also nicht zuletzt deut­lich gemacht, dass eine Neu­aus­rich­tung der arbeits­so­zio­lo­gi­schen Ana­ly­se­ka­te­go­rien wie auch Metho­dik not­wen­dig ist und ansatz­wei­se gezeigt, wie die­se aus­se­hen könn­te (Wolf 2018; 2019). Die­ses Ergeb­nis reprä­sen­tiert damit ein Bei­spiel für einen mög­li­chen beson­de­ren Nut­zen qua­li­ta­ti­ver Sekun­där­ana­ly­tik: wie eine zunächst vor allem his­to­risch-empi­risch aus­ge­rich­te­te Sekun­där­un­ter­su­chung zur Klä­rung einer aktu­el­len arbeits­so­zio­lo­gi­schen Pro­blem­stel­lung bei­tra­gen, wich­ti­ge theo­re­ti­sche und metho­di­sche Pro­ble­me sicht­bar machen und zugleich einen Bei­trag zur Lösung die­ser Pro­ble­me leis­ten kann.