IfS Jena: Das Gesellschaftsbild des Prekariats
John Lütten und Jakob Köster
Das Projekt hat den Zusammenhang von Prekarisierungs- bzw. Prekaritätserfahrungen und Einstellungsmustern gegenüber Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen untersucht. Konzeptueller und inhaltlicher Ausgangspunkt des Projekts war dabei das auf eine These Robert Castels zurückgehende Modell postfordistischer Arbeitsmärkte, demzufolge sich diese in verschiedene Zonen sozialer Sicherheit bzw. (Des-)Integration und Verwundbarkeit aufteilen. Es dient dem Jenaer Forschungszusammenhang als inhaltlicher sowie konzeptioneller Referenzpunkt und ist in früheren Forschungsbeiträgen empirisch validiert sowie – mit Blick auf den bundesdeutschen Arbeitsmarkt – erweitert worden. In dieser Fassung umfasst es eine Typologie mehrerer subjektiver Verarbeitungsformen in den Zonen der Entkoppelung, der Prekarität sowie der Zone der Integration. Das explorativ angelegte Pilotprojekt hat untersucht, ob den verschiedenen Formen subjektiver Verarbeitungsformen auch Einstellungsmuster entsprechen, die auf Elemente gemeinsamer Gesellschaftsbilder hinweisen. Ein besonderes Interesse galt dabei spezifisch rechtspopulistischen Formen der Verarbeitung.
Dazu wurden qualitative Materialbestände (leitfadengestützte Einzelinterviews mit Beschäftigten verschiedener Branchen sowie Erwerbslosen) aus vier Datensätzen abgeschlossener Forschungsprojekte der Jahre 2002 bis 2013 sekundäranalytisch ausgewertet und auf Koordinaten und Bestandteile von Gesellschaftsbildern hin untersucht. Neben der Basisstudie der Jahre 2002 bis 2004, deren Material neu gesichtet wurde, wurden dabei auch Materialbestände zweier Verbundpartner in die Sekundäranalyse einbezogen. Insgesamt wurden 79 Interviews sekundäranalytisch ausgewertet. Die dabei zugrunde gelegte Operationalisierung des Konzepts von Gesellschaftsbildern sowie die Ergebnisse der Sekundäranalyse waren zudem Grundlage einer methodisch kontrollierten Primärerhebung, im Rahmen derer 66 Interviews mit Beschäftigten verschiedener Branchen und Zonen sowie Erwerbslosen geführt wurden. Eine „Tiefenbohrung“ im Bereich der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft hat sich zudem gesondert mit Gesellschaftsbildern rechtspopulistisch orientierter ArbeiterInnen befasst.
Das im Rahmen des Projekts entwickelte Konzept des Gesellschaftsbildes schließt unter anderem an die klassischen Beiträge der arbeits- und industriesoziologischen Forschung zu Arbeiterbewusstsein an. Das Gesellschaftsbild, so die Annahme, ist jenes, das der Einzelne sich vor dem Hintergrund seines sozialen Nahbereichs sowie seiner sozioökonomischen Stellung von der Gesellschaft als Ganzer macht und was die Lebenswelt mit der Gesellschaft vermittelt. Das entwickelte Codesystem (wie auch der Gesprächsleitfaden für die Primärerhebung) umfasst daher die Erwerbsbiografie und berufliche (Arbeits-)Situation ebenso wie die Bewertung von Hierarchien, politische Repräsentation, Wahlverhalten, Selbstverortung und Fragen nach der gesellschaftlichen Zukunft und Utopien.
Das sekundäranalytische Verfahren hat sich nicht nur als zwar methodisch voraussetzungsvolles aber fruchtbares Verfahren zur Auswertung älterer Materialbestände erwiesen, sondern auch mehrere Ergebnisse geliefert. Die zentralen Befunde des Projekts:
Leistungsverdichtung, gesellschaftliche Machtasymmetrien und Verunsicherungserfahrungen prägen das Gesellschaftsbild vieler Befragter. Insofern können wir die Ergebnisse bereits vorliegender Studien im Themenfeld bestätigen. Gleichzeitig ist der meritokratische Bezug auf „Leistung“ nahezu ungebrochen eine Quelle sowohl von Selbstverortung und -bildern wie auch von Kritik und Anerkennungsfragen gleichermaßen. Diese kann sich nach „oben“ richten, etwa wenn Wertschätzung von betrieblichen Autoritäten für geleistete Arbeit eingefordert wird, gleichwohl kann sie die Abwertung von „Sozialschmarotzern“ und vermeintlich leistungsunwilligen Erwerbslosen sein.
Prekarität und Verunsicherungserfahrungen bedingen keine positive Kollektividentität eines „Prekariats“. Dort, wo sie Angaben zur eigenen Selbstverortung in der Gesellschaft machen, sieht sich die Mehrzahl der Befragten trotz teilweise erheblicher materieller Einbußen als Teil der gesellschaftlichen „Mitte“. In einigen Fällen geht dies einher mit einer Abwertung von Hartz-IV-Beziehenden, die auf den Beweis der eigenen Konformität und Anpassung an die Normalitätserwartungen der Mehrheitsgesellschaft zielt.
Die in den „klassischen“ Studien der Arbeiterbewusstseinsforschung festgestellte dichotome Sichtweise auf das gesellschaftliche Oben und Unten findet sich nur bei wenigen Befragten. Stattdessen ist eine bipolare Sichtweise auf „die Politik“ verbreitet, die sich polemisch gegen „die Politiker“ richtet und diesen die „kleinen Leute“ beziehungsweise die Bevölkerung gegenüberstellt. Nur bei einem kleinen Teil der Befragten findet sich ein Bewusstsein gesellschaftlicher Mechanismen, die einen kausalen Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen „Oben“ und „Unten“ herstellen.
Gegenüber den in der Basisstudie herausgearbeiteten rechtspopulistischen Einstellungen, die sich in Varianten in allen Zonen der Erwerbsgesellschaft finden, haben wir eine Reihe von Elementen nicht-rechter Gesellschaftsbilder finden können. Diese umfassen unter anderem differenzierte, unterschiedliche Haltungen zu Einwanderung (Bejahung des Rechtes auf Asyl, Wahrnehmung von Einwanderung als (kulturelle) Bereicherung, Unterstützung von Einwanderung als ökonomische Notwendigkeit), zur Arbeitsmarktkonkurrenz (Legitimität von Konkurrenz bei Gelten fairer Regeln für alle, Kritik an Unternehmen – und nicht ausländischen ArbeitnehmerInnen, die Lohndifferenzen ausnutzen), zu Nationalstolz und Identität, Handlungsfähigkeit der Politik und Haltung zu Erwerbslosen (z.T. dezidierte Zurückweisung individualisierender Schuldzuweisungen).
Diese Sichtweisen finden sich in allen drei Zonen der Erwerbsgesellschaft, wobei explizit liberal-weltoffene Sichtweisen vor allem (aber nicht ausschließlich) von hochqualifizierten Beschäftigten in der Zone der Integration geäußert werden. Deutlich wird zudem in einigen Fällen der Einfluss gewerkschaftlicher Organisierung und entsprechender Programmatiken auf die Verbreitung solidarischer Orientierungen. Insgesamt lässt sich dich „relative Autonomie“ von Einstellungsmustern und der Erwerbssituation der Befragten bestätigen.
Im Rahmen der Pilotstudie „Gesellschaftsbild des Prekariats“ hat sich gezeigt, dass die systematische Kombination einer sekundäranalytischen Auswertung mit einer neuen Primärerhebung ein fruchtbares Forschungsdesign darstellt und so der Forschungsstand zur Subjektivität von Beschäftigten und Erwerbslosen weiterentwickelt werden konnte. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Forschungsalltag bei der Entwicklung und Testung von IT-basierten Tools hat zu einem deutlichen methodischen Kompetenzzuwachs in der Forschungsgruppe geführt. Gegenüber der ursprünglichen Planung wurde die Fragestellung des Teilprojektes weiterentwickelt und auf Studien aus dem Zeitraum von 2002 bis 2013 fokussiert.